Erhöhte Infektiosität neu auftretender SARS-CoV-2-Varianten erklärt

Delta- und Omikron-Mutanten des Virus binden fester und länger an Wirtszellen als frühe Wuhan-Varianten
 

23. Februar 2023

Ein internationales Forschungsteam um Gerhard Hummer, Direktor der Abteilung Theoretische Biophysik am Max-Planck-Institut für Biophysik, hat die Anbindung verschiedener Varianten des Coronavirus an lebende Zellen untersucht. Die Forschenden haben herausgefunden, dass die Delta- und Omikron-Varianten stärker und länger haften als der ursprüngliche Wuhan-Stamm des Virus. Mit dieser Entdeckung erklären sie die erhöhte Infektiosität und Widerstandsfähigkeit gegen das Immunsystem des Wirts, die bei den neueren Corona-Varianten auftreten.
 

Text: Katharina Käfer

Spike-Proteine des Coronavirus binden an ACE2-Rezeptoren auf der Zelloberfläche

Bei der Infektion von Zellen mit dem SARS-CoV-2-Virus spielen die stachelförmigen Proteine auf dessen Oberfläche eine entscheidende Rolle. Diese Spike-Proteine kann man sich vorstellen wie dreiarmige Greifzangen, die an sogenannte ACE2-Rezeptoren andocken, die natürlicherweise auf den Wirtszellen vorkommen und es dem Virus ermöglichen, sein genetisches Material zu injizieren. Im Jahr 2020 zeigte ein Forschungsteam des Max-Planck-Instituts (MPI) für Biophysik in Zusammenarbeit mit dem Paul-Ehrlich-Institut und dem European Molecular Biology Laboratory (EMBL), dass diese Greifzangen nicht völlig starr, sondern über einen biegsamen Stiel auf dem Virus befestigt sind. Dadurch können mehrere Spike-Proteine gleichzeitig die Zelle auf der Suche nach ACE2-Rezeptoren „abtasten“ und an diese binden (Turoňová et al., Science 2020).  Dieser Stiel ist zudem beinahe vollständig mit langen Kohlenhydratketten bestückt, die es dem Immunsystem des Wirts erschweren, das Virus als Krankheitserreger zu erkennen. Die wenigen unbedeckten Regionen werden bei einer Impfung oder Infektion zum Ziel von Antikörpern, was zu einer raschen Evolution des Virus und zum Auftreten neuer Varianten führt, die der Immunreaktion durch Veränderung dieser Regionen entgehen. (Sikora et al., Plos Comp Biol 2021, von Buelow et al., Plos Comp Biol 2023).

Nun haben sich Forschende der Abteilung Theoretische Biophysik unter der Leitung von Gerhard Hummer am MPI für Biophysik gemeinsam mit einem internationalen Team aus Experten der experimentellen Biophysik der Frage gewidmet, wie genau die dreiarmigen Spikes an die ACE2-Rezeptoren binden. Wie stark ist die Bindung und welchen Einfluss haben Veränderungen im Spike-Protein bei neueren Virusmutanten wie Delta und Omikron? Ihre Antworten auf diese Fragen haben sie kürzlich in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht.

Forschende untersuchten die Bindung der Spike-Proteine an lebende Zellen experimentell und mit Computersimulationen

Hummers Team schaute sich die Bindung des Spike-Proteins an zelluläre ACE2-Rezeptoren mit Hilfe von Moleküldynamiksimulationen an. „Wir berechnen, wie sich einzelne Spike-Proteine und die zellulären Rezeptoren bewegen und wie sie miteinander wechselwirken“, erklärt Mateusz Sikora, Postdoktorand in Hummers Abteilung und einer der Erstautoren der Studie. In Zusammenarbeit mit Forschungsteams aus Österreich, Schweden und Kanada kombinierten die Wissenschaftler des MPI für Biophysik ihre Computersimulationen mit Rasterkraftmikroskopie an lebenden Zellen (Zhu, Canena, Sikora et al., Nature Communications 2022). Bei dieser Technik werden nur wenige Zehntausendstel Millimeter kleine Haken verwendet, um Bindungen auseinanderzuziehen und so Kräfte zwischen Molekülen zu messen oder um Oberflächen schnell abzutasten und molekulare Bewegungen in Echtzeit zu beobachten. Durch Kombination der theoretischen und experimentellen Methoden zeigten die Forschenden, dass der Stiel und vor allem auch die drei Arme der Spike-Greifzangen viel beweglicher sind als bisher gedacht. Dadurch können bis zu drei Arme in kürzester Zeit an bis zu drei verschiedene ACE2-Rezeptoren binden. Mehrfache Bindungen beobachteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor allem beim ursprünglichen Wuhan-Stamm und bei den Delta-Varianten. Ein einzelner Greifarm des Delta-Spike-Proteins haftet dabei etwa 10-mal stärker an einen ACE2-Rezeptor als ein Arm der Wuhan-Spikes. Bei den Omikron-Varianten stellte das Forschungsteam sogar eine etwa 100-mal stärkere Bindung fest. Jedoch beobachteten sie hier weniger häufig, dass zwei oder sogar drei Greifarme simultan binden.

Verbesserte Bindungseigenschaften der Spike-Proteine der Delta- und Omikron-Varianten erhöhen die Infektiosität

„Alles in allem bindet das Virus sowohl bei Delta als auch bei Omikron fester und länger an die Zelloberfläche“, fasst Sikora zusammen. „Die Viren können deswegen weniger leicht durch verstärkten Blut- oder Schleimfluss oder Reflexe wie Husten oder Niesen abgelöst werden.“ Dies ist eine Erklärung dafür, dass die Delta- und Omikron-Varianten des SARS-CoV-2-Virus im Vergleich zum ursprünglichen Wuhan-Stamm sehr viel infektiöser und leichter übertragbar sind.

Internationale fachübergreifende Zusammenarbeit führte zum Erfolg

Bei der Eindämmung der Corona-Pandemie waren Zusammenhalt und Zusammenarbeit in der internationalen Gemeinschaft von zentraler Bedeutung, auch in der Wissenschaft. Bei der Untersuchung der Bindungseigenschaften des Spike-Proteins nutzte das Team von Gerhard Hummer seine Expertise in der Molekulardynamik-Simulation biophysikalischer Systeme und Phänomene in Zusammenarbeit mit mehreren renommierten internationalen Forschergruppen. Peter Hinterdorfer und sein Team von der Johannes Kepler Universität Linz in Österreich führten mit ihrer fundierten Erfahrung in der Rasterkraftmikroskopie die Experimente durch. Josef M. Penninger von der University of British Columbia in Kanada hatte 2020 zur Aufklärung der Rolle der ACE2-Rezeptoren bei Coronavirus-Infektionen beigetragen und das Team profitierte von seinem Wissen und seiner langjährigen Erfahrung in der medizinischen Forschung. Als Experten und Expertinnen für Viruserkrankungen komplettierten Forschende um Ali Mirazimi vom Karolinksa-Institut in Schweden das Team. Mateusz Sikora resümiert: „Für ein solches Projekt braucht man viele Leute mit Erfahrung in unterschiedlichen Bereichen, die sich mit ihren Stärken gegenseitig ergänzen und verschiedene Blickwinkel einbringen. Gute Wissenschaft lebt von Teamarbeit.“

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