Das knifflige Puzzle der Poren im Zellkern
Die Steuerzentralen unserer Zellen sind ihre Kerne mit dem darin gespeicherten Erbgut. Kernporen bilden die einzigen Verbindungstüren durch die Kernhülle. Sie lassen nur wichtige Botenstoffe durch, nicht aber gefährliche Eindringlinge wie beispielsweise Krankheitserreger. Die Poren helfen dem Kern, mit anderen Zellbestandteilen zu kommunizieren und das genetische Material zu schützen. Diese anspruchsvolle Aufgabe verlangt einen komplexen Aufbau, der viele Köpfe seit zwei Dekaden beschäftigt; ein angefangenes Puzzle mit fehlenden Teilen, das ein Forschungsteam unseres Instituts in Zusammenarbeit mit dem European Molecular Biology Laboratory (EMBL) nahezu vollständig lösen konnte.
Text: Katharina Käfer
Die Strukturaufklärung von Proteinkomplexen ist ein biologisches Puzzle
Zur Erfüllung komplexer Funktionen in unserem Körper liegen Proteine häufig in größeren Verbänden vor. Die Strukturaufklärung dieser Proteinkomplexe kann man sich vorstellen wie ein 3D-Puzzle. Erst durch das richtige Zusammensetzen einzelner Proteinbausteine wird das Gesamtbild erkennbar. Entschlüsseln wir die dreidimensionale Struktur, hilft uns das zu verstehen, wie Proteine unsere Körperfunktionen steuern. Dadurch können Erkrankungen frühzeitig entdeckt und neue Therapien entwickelt werden.
Der Kernporenkomplex ist mit seinen etwa 1.000 ähnlich aussehenden Teilen das wohl größte und kniffligste dieser Puzzles. Seit Anfang der 2000er Jahre zerbrechen sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Kopf, konnten aber die Einzelteile bisher nur lückenhaft zusammensetzen. Unserem Forschungsteam um Martin Beck und Gerhard Hummer ist es nun gelungen, das Puzzle der dreidimensionalen Architektur der menschlichen Kernpore fast vollständig zu lösen [1].
Kernporen helfen, die Zelle zu steuern und das Erbgut zu schützen
Wie der Name vermuten lässt, sind Kernporen Löcher im Zellkern. Im Kern fast jeder einzelnen Zelle unseres Körpers ist unser Erbgut gespeichert. Umhüllt ist der Kern von einer doppelschichtigen Membran, unter anderem um das in ihm enthaltene genetische Material vor Bedrohungen wie Viren oder anderen Pathogenen zu schützen. Und warum hat diese Hülle nun Löcher? Da der Zellkern die Kommandozentrale der Zelle ist und beispielsweise Stoffwechselprozesse steuert, darf er nicht komplett abgeschirmt sein vom Rest der Zelle. In Gefahr- und Stresssituationen oder während der Zellteilung muss er mit anderen Zellbestandteilen kommunizieren. Tausende von Kernporenkomplexen in der Kernmembran fungieren daher als Türen, und nur wer den richtigen Schlüssel hat, kommt durch. Die gigantischen Proteinkomplexe sorgen dafür, dass alle wichtigen Nähr- und Botenstoffe zwischen Kern und Zytoplasma ausgetauscht werden können, während unerwünschten Eindringlingen wie Krankheitserregern der Weg zu unserem Erbgut versperrt bleibt.
Die fehlenden Teile des menschlichen Kernporen-Puzzles
Die Aufgabe, bei mehreren zehntausend Passanten pro Minute zwischen nützlich und schädlich zu unterscheiden, ist nicht trivial. Dementsprechend kompliziert sind Aufbau und Funktionsweise der Kernpore: Sie besteht aus etwa 1.000 einzelnen Puzzleteilen in einem Bausatz 30 verschiedener Proteine, den sogenannten Nukleoporinen. Einige von ihnen sind ausschließlich im Gerüst des Kernporenkomplexes verbaut, das die Transportpore ausbildet. Andere säumen das Gerüst und ragen wie Fangarme in die Pore hinein, um mit der Fracht zu interagieren oder Eindringlinge abzublocken. Die Pore ist kein starres Konstrukt, sondern verengt oder weitet sich dynamisch. Das erschwert das Puzzeln an der Kernpore zusätzlich, denn die einzelnen Nukleoporine verändern ständig und sehr leicht ihre Form. Es ist, als hätte man Puzzleteile aus zu dünnem Papier. Lediglich der Aufbau von 16 Gerüst-Nukleoporinen war bisher bekannt und nur knapp ein Drittel des Donut-förmigen Puzzles der Kernpore konnte aus jeweils mehreren dieser 16 verschiedenen Teile richtig zusammengesetzt werden. Fragen, wie der Porendurchmesser reguliert wird, wie einzelne Bausteine zusammengehalten werden und wie der Komplex in der Membran verankert ist, blieben aber bisher ungeklärt. Unsere Forschenden konnten nun Antworten auf diese Fragen finden und erstmals beinahe das gesamte Kernporen-Puzzle lösen, und zwar durch die Kombination von experimentellen Laborergebnissen, computergestützten Berechnungen und Vorhersagen der Künstlichen Intelligenz (KI) AlphaFold (Abb. 1, [1]).
Die Membranspannung reguliert den Durchmesser der Kernporen
Die nur wenige Zehntausendstel Millimeter großen Kernporen können unsere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Labor mit hochauflösenden Elektronenmikroskopen sichtbar machen. Um sie in ihrer natürlichen Umgebung zu betrachten, schockgefrieren sie ganze Zellen und schneiden sie in ultradünne Scheiben. Durch die Kombination vieler Bilder, aufgenommen aus verschiedenen Winkeln, können sie die Kernporenkomplexe in verschieden geweiteten und verengten Zuständen abbilden (Abb. 2). Die Forschenden haben herausgefunden, dass die Zelle den Porendurchmesser über die Spannung der Kernhülle steuert [2]. In Stresssituationen, wie zum Beispiel bei Energie- oder Nährstoffmangel, ist die Hülle des Zellkerns nicht mehr so gespannt wie bei einem prall gefüllten Fußball, sondern schlaff wie bei einem alten Luftballon, der seinen Inhalt nach und nach verliert. Dadurch ziehen sich die Poren zusammen und regulieren so den Materialtransport zwischen Kern und Zytoplasma.
Die Kombination von Künstlicher Intelligenz mit experimentellen und computerbasierten Methoden führte zur Lösung des Kernporen-Puzzles
Zwar kann man die einzelnen ineinander verschlungenen Nukleoporin-Bausteine in den elektronenmikroskopischen Aufnahmen nicht voneinander unterscheiden, jedoch erhält man Schablonen des Kernporenkomplexes mit verschiedenen Porendurchmessern. Mithilfe der KI AlphaFold und mittels Computer-Simulationen hat unser Forschungsteam einzelne Bausteine passend in die unterschiedlichen Schablonen „hineingepuzzelt“ und so die Struktur verschiedener „Kleber“-Nukleoporine aufgeklärt, die entweder einzelne Bausteine fest zusammenhalten oder den gesamten Komplex in der Kernmembran verankern. Mit nun insgesamt 25 bekannten Nukleoporin-Puzzleteilen ist es dem Team gelungen, mehr als 90 % des Gerüstaufbaus der Kernpore zu entschlüsseln .
Modelle der menschlichen Kernpore – so detailliert wie nie zuvor – können in Zukunft nicht nur helfen, die Transport- und Abwehrmechanismen besser zu verstehen, sondern auch Fehler und Fehlfunktionen zu identifizieren. Einige Viren, wie der Aidserreger HIV, schaffen es nämlich, die Pore zu überlisten und unerkannt in den Zellkern zu gelangen. Das Verständnis solcher Funktionsstörungen kann es ermöglichen, neue Medikamente oder Impfstoffe, zum Beispiel gegen virale Erkrankungen, zu entwickeln [1].
Literatur: